Psychosoziale Bewältigung des Systemwandels

Thesen *

Die individuelle Bewältigung transformationsbedingter Unsicherheiten lässt sich sozialpolitisch unterstützen!

  1. Während eines Systemwechsels erleben Individuen zahlreiche Anforderungen (Demands) – z. B. Arbeitslosigkeit, Karrierebrüche, den Zwang zu erneuter beruflicher Qualifizierung oder einen Anstieg der Pluralität von Lebensformen – als gesteigerte Verunsicherung. Es ist besonders schwer, solche Unsicherheiten der Lebenslage zu bewältigen, wenn das sichernde Band generationsübergreifender Erfahrungen abgeschnitten wird, was bei Systemwechseln ebenfalls häufig geschieht.
  2. Nach dem entwicklungspsychologischen Jena Model of Social Change and Human Development , das im Sonderforschungsbereich 580 entwickelt wurde, nötigen berufliche und soziale Umstände, die aufgrund des erlebten Kontrasts zwischen stabilem Gestern und instabilem Heute verunsichernd wirken, die Betroffenen dazu, ihre Lebensführung neu einzustellen (Coping).
  3. Die Betroffenen greifen bei der Bewältigung (Coping) auf persönliche und soziale Ressourcen (Finanzmittel, Humankapital, Optimismus, Unternehmungslust etc.) zurück. Dabei helfen ihnen persönliche Entwicklungsguthaben (Developmental Assets) ihres näheren sozialen Umfelds („meine Familie unterstützt mich …“ oder „meine Arbeitskollegen motivieren mich…“) und die Normen, die die Erwartungen nahestehender Personen transportieren. Ein weiterer Faktor sind die bisher beschrittenen Lebens- und Karrierepfade (Individual Biographic Trajectories).
  4. Im Verarbeitungsprozess wird versucht, Unsicherheiten abzubauen oder zumindest subjektiv erträglicher zu machen. Krisengezeichnete Umgebungen erweisen sich dafür durchaus als hilfreich. Es lässt sich nachweisen, dass die Erfahrung, Teil eines Schicksalskollektivs zu sein – wie beispielsweise in einem Umfeld zu leben, das durch hohe Arbeitslosigkeit geprägt ist – die Minderung des Selbstwertgefühls abfängt.
  5. Untersucht wurde auch, unter welchen Voraussetzungen die bewältigende Anpassung Raum lässt, sich bürgerschaftlich oder politisch zu engagieren. Faktoren, die solch ein öffentliches Engagement begünstigen, sind neben sozialen Normen auch die eigene Wirksamkeitsüberzeugung (Efficacy) und außerdem auch die darüber vermittelten Kontexteinflüsse – z. B. die Unterstützung durch Familie, Freunde u. a. Das markiert „Interventionspunkte“, die auch in Korea eine Förderung bürgerschaftlichen Engagements in Zeiten krisenhaften sozialen Wandels ermöglichen könnten.
  6. Insgesamt hat sich gezeigt, dass das Jena Model of Social Change and Human Development geeignet ist, die Wirkungen makropolitischen und -sozialen Wandels auf das Verhalten der Menschen zu verstehen. Sein Design ermöglicht sowohl Vergleiche zwischen deutschen Bundesländern und Regionen in Deutschland, als auch internationale Vergleiche (bspw. mit einer ähnlichen Stichprobe in Polen). Für sozialpolitische Maßnahmen gilt nicht: „one size fits all“. Insbesondere der Vergleich mit Polen zeigte, dass Unterschiede in den sozialen Sicherungssystemen die Stärke der im Modell postulierten Beziehungen in sinnfälliger Weise beeinflussen.
    Für eine angestrebte koreanische Wiedervereinigung lassen sich aus unseren Erkenntnissen folgende Schlüsse ziehen:
  7. Die Populationen in Nord- und in Südkorea werden sich völlig unterschiedlich verhalten. Ein möglicher radikaler Systemwechsel in Nordkorea bringt dann allerdings scheinbar verschüttete kulturelle Gemeinsamkeiten zur Geltung, an die vorher kaum gedacht wurde.
  8. Grundsätzlich erweitert sich nach jeder Transformation die „Schere zwischen arm und reich”. Soziale Ungleichheit und ihre psychosozialen und gesundheitlichen Folgen können abgemindert werden, wobei aber Wirtschaftswachstum allein die soziale Ungleichheit nicht verhindern kann.
  9. In der Transitionsphase zerschlägt der radikale soziale Wandel soziales Kapital, aber er zerstört nicht die im Lebenslauf erworbene Selbstwirksamkeit. Sie federt die Folgen gegenwärtiger Malaisen im künftigen Leben ab. Je mehr Selbstwirksamkeit insbesondere bei Jugendlichen – in Schule und Ausbildung – gefördert wird, umso höher ist ihre Chance, sich später behaupten zu können (Resilienz) und umso geringer sind die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Transformation. Vereinigungsplanung sollte daher bedenken, wie jungen Leuten nützliche Selbstwirksamkeitserfahrungen vermittelt werden können. Je früher und je mehr umso besser! China tut dies bereits.
  10. Generell ist zu prüfen, ob das Jena Model of Social Change and Human Development auf Korea übertragbar ist. Gibt es in Nordkorea persönliche Ressourcen und kontextuelle Hilfen (Familie, Nachbarschaft, Betrieb etc.), die die Bewältigung des sozialen Wandels und der ökonomischen Umbrüche begleiten und begünstigen können? Zeichnen sich überdies individuelle Dispositionen ab, die auf längere Sicht auch ziviles und politisches Engagement befördern können?

Genese der Erkenntnisse im Sonderforschungsbereich 580 *

Die oben stehenden Thesen gehen auf das folgende Forschungsprojekt innerhalb des Sonderforschungsbereiches 580 zurück:

  • Individuelle und soziale Ressourcen für den Umgang mit sozialem Wandel (Teilprojekt C6)